Koryû Naginatajutsu
In alter Zeit gab es in Japan ein Vielzahl verschiedener Naginata-Stile, Schulen und Überlieferungslinien (Ryûha). Von diesen existiert heute noch eine kleine Zahl, die aktiv praktiziert wird. Darüber hinaus gibt es auch Schulen, die sich mit der Naginata neben anderen Dingen beschäftigen. Sie alle unterscheiden sich - zum Teil erheblich - in der Art und im Gebrauch der Naginata. Die meisten Schulen benutzen einen ihnen eigenen Naginata-Typus, der sich in Klingenlänge, Stangenlänge, Klingenkrümmung, Schaftdurchmesser, Gewicht, etc. von dem anderer Schulen erheblich abheben kann. Zum Beispiel gibt es in Todaha Bukoryû die Kagitsuki Naginata, deren Querstange ganz besondere Techniken ermöglicht. Die Haltungen, Bewegungsabläufe, die Schnitte und Stiche, die mit der Naginata ausgeführt werden, können sehr unterschiedlich sein. Dies beginnt schon mit der Frage, ob ein Stil auf den gerüsteten oder ungerüsteten Kampf vorbereitet. Schulen, die sich gezielt an Frauen richten, können sich sowohl in der Ausführung der Naginata wie auch in deren Einsatz von Schulen für Männer unterscheiden.
Jede Schule hat ihre Besonderheiten und es ist schwierig, korrekte, allgemein gültige Feststellungen zu treffen, ohne die eine oder andere Schule außen vor zu lassen oder der zu zu vielen Ausnahmebemerkungen gezwungen zu sein. Allein jedoch gemeinsam ist das Training zu zweit (seltener auch zu dritt) auf der Grundlage von Kata, also festgelegten Mustern aus Angriff und Kontertechnik.. Dazu werden hölzerne Waffen benutzt. Alle Stiche und Schnitte werden kurz vor der Berührung abgestoppt. Eine umfassende Schutzausrüstung oder gar ein Wettkampf in Rüstung ist nicht vorgesehen (allein Maniwa Nenryû kennt den freien Kampf mit Kopf- und Handschutz im Rahmen seiner Schwertlehre). Was Naginata als Budô-Disziplin betrifft, so wurde die heute gebräuchliche Rüstung auf der Grundlage des Kendô Bôgu erst im 20. Jahrhundert eingeführt. Dies ist deshalb überraschend, weil der Grundtypus dieser Rüstung bereits seit ca. dreihundert Jahren für den Schwertkampf eingesetzt wird und es alte Holzschnitte gibt, die auch das Speer- und Naginatatraining mit Bôgu zeigen.
Dies ist der Versuch der heute noch nachvollziehbaren Vielfalt der Naginata-Schulen gerecht zu werden und einen möglichst vollständigen Überblick zu liefern. Diese Aufzählung unterliegt dem Wandel und der stetigen Ergänzung. Die große Schwierigkeit liegt darin, dass die überwiegende Mehrzahl der hier zusammen getragenen Schulen über keine oder nur eine Handvoll Praktizierende in Europa verfügt, geschweige denn Ausübende mit Lehrdiplom. Literatur zu diesem Thema ist in Japan verschwindend und in der westlichen Welt fast nicht vorhanden. Auch in Japan ist es schwer, Nachwuchs zu begeistern und manche Schulen verlieren nach und nach Mitglieder an Zahl und von hohem Kenntnisstand.
Wie für alle anderen Koryû Bujutsu (alten Kampfkünste) gilt natürlich auch hier, dass nur der lange Praktizierende einen bedeutenden Einblick gewinnt. Bücher, Bilder und selbst Filme sind nicht ausreichend um ein tiefes Verständnis einer Kampfkunst zu erlangen. Dieses alleine im Bereich Naginata in der Gesamtheit der Schulen zu erreichen, übersteigt selbst heute die Dauer eines Menschenlebens. Ein Großteil der hier zusammengetragenen Informationen beruht auf japanischen Quellen, idealerweise dem persönlichen Austausch mit Praktizierenden in Japan, und ist zunächst beschreibender Natur, beginnend mit der Auflistung der mir bekannten Ryûha. Nach und nach wird jede Schule ihren eigenen Eintrag bekommen. Dabei erhebe ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Im Gegenteil, ich freue mich über jede profunde Mitteilung, die zur Verbesserung, Erweiterung und Vertiefung beiträgt.
Schulen, die sich mit dem Gebrauch der Naginata befassen, fallen in zwei Kategorien: Naginata-Schulen und andere. Schulen, die sich unter anderem mit der Naginata beschäftigen. Letztere werden hier auf Grund der Naginata-Perspektive auf das Thema als gemischte Schulen bezeichnet.
Naginata-Schulen sind solche Schulen, in denen das Hauptaugenmerk auf die Ausbildung an der Naginata bzw. Nagamaki gelegt wird. Das schließt den Umgang mit anderen Waffen wie Katana, Kusarigama, etc. jedoch nicht aus. Ganz im Gegenteil, bei einigen Schulen überwiegt sogar im Formenschatz die Beschäftigung mit unsymmetrischen Waffenpaarungen, meist Katana gegen Naginata. Dies setzt voraus, dass sich der Praktizierende auch in einem gewissen Rahmen mit der anderen Waffe beschäftigt. Diese stellt üblicherweise die verlierende Seite einer Kata dar, was der inhaltlichen Ausrichtung auf die Naginata entspricht. Naginata-Schulen führen den Begriff "Naginata" oder gar "Naginatajutsu" im Namen und sind (in alphabetischer Reihenfolge):
- Anazawaryû Naginatajutsu
- Chokugenryû Naginatajutsu
- Higo Koryû Naginata
- Jikishinkageryû Naginatajutsu
- Tendôryû Naginatajutsu
- Todaha Bukôryû Naginatajutsu
- Yôshinryû Naginatajutsu
Gemischte Schulen sind solche Schulen, in denen der Umgang mit einer Vielzahl von Waffen (mitunter auch inclusive waffenlosem Kampf wie Ringen) gelehrt wird, von denen Naginata bzw. Nagamaki nur eine untere mehreren ist. Häufig liegt der Schwerpunkt auf dem Schwert. Zu den gemischten Schulen gehören (ebenfalls in alphabetischer Folge):
- Arakiryû
- Hinoshita Toride Kaizan Takenouchiryû
- Kashima Shinryû
- Kukishinryû
- Maniwa Nenryû
- Muhenryû Bôjutsu
- Shingyôtôryû
- Suiôryû Iai Kenpô
- Tatsumiryû Hyôhô
- Tenshin Shôden Katori Shintôryû
Auch andere heute noch praktizierte Schulen können früher über Kata mit Naginata verfügt haben, zum Beispiel Hôzoinryû Takadaha Sôjutsu, doch ist dieses Wissen im Laufe der Zeit verloren gegangen.
Anmerkungen zur Transliteration:
Da es in der japanischen Schrift keine Zeichentrennung gibt, ist diese bei Transliterationen in die deutsche Schriftsprache grundsätzlich willkürlich. Der besseren Lesbarkeit halber ist es jedoch praktischer, den langen Namen einer alten Schule samt Nennung der Überlieferungslinie und Waffengattung in einzelnen Sinneinheiten zu notieren. Als Beispiel sei hier Hôzôinryûtakadahasôjutsu genannt, was in der Schreibweise Hôzoinryû Takadaha Sôjutsu (was soviel heißt wie: Schatzspeicherschule der Speerfechtkunst in der Takada-Überlieferung) bedeutend leichter lesbar ist. Ebenso ist die Verwendung des Bindestrichs z. Bsp. für Xryû als X-Ryû bzw X Ryû eine Geschmacksfrage.
Abschließend gilt: Entscheidend ist alleine die japanische Schriftform, denn die genannten Fragen treten nur in der Übertragung in eine andere Schrift auf.
Autor: Andreas Nicol